Heinrich Wieland Dienstzimmer-Korrespondenz

Der Chemie in München ist der Garaus gemacht

 

Aus der Dienstzimmer-Korrespondenz des Nobelpreisträgers 

Heinrich Wieland 1945-1951

Mit einem Essay von Rolf Huisgen 

Herausgegeben von Adam Vollmer

Algorismus Heft 64

Studien zur Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften

Herausgegeben von Menso Folkerts

Dr. Erwin Rauner Verlag, http://www.erwin-rauner.de

Augsburg 2008

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliothek

 VII+427 Seiten, 16 Seiten Tafelteil, ISBN 978-3-936905-28-1

 

Kurzbeschreibung:

Nach dem Zweiten Weltkrieg lagen die Gebäude des berühmten Lehrstuhls für Chemie an der Ludwig-Maximilians-Universität München in Trümmern. Die amerikanische Besatzungs­macht verhängte über den damals 67-jährigen Lehrstuhlinhaber, trotz dessen anti­nazis­tischer Ein­stellung während des Dritten Reiches, einen monatelangen Haus­arrest und entließ nahezu alle Mitarbeiter des chemischen Institutes. In einem Brief aus jener Zeit sarkastisch Wieland diese trostlose Situation mit den Worten »Der Chemie in München ist der Gar­aus gemacht«, die als Buchtitel für den vorliegenden Band der Reihe ‚Algorismus’ Verwendung fanden. Das Buch enthält 205 ausgewählte Schreiben der Dienst­zimmer-Korres­pon­denz Heinrich Wielands der Jahre 1945 bis 1951, aus denen der mühsame Wieder­auf­bau der Münchener Institute sowie die Vergangen­heits­bewäl­tigung eindrucksvoll hervorgehen.

 

Der Briefedition ist ein Essay von Rolf Huisgen, dem Schüler und späteren Nachfolger Hein­rich Wielands auf dem Lehrstuhl, vorangestellt. Es folgen die 205 Schriftstücke, ein bio­gra­fischer Abriss Heinrich Wielands, ein kurzer Einblick in das wissenschaftliche Werk, sowie ein Personenregister und erläuternde Informationen zum Verständnis der Briefe. Das Litera­tur­­verzeichnis und ein Bildteil beschließen den Band.                                                                                                                                                             

Bestellung in jeder Buchhandlung und beim E. Rauner Verlag. Dort finden Sie auch weitere Informationen zu Algorismus Studien zur Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften: http://www.erwin-rauner.de/algor/ign_publ.htm

Kurzbeschreibung englisch

Der Lebenslauf von Heinrich Otto Wieland

Heinrich Wielands Vater Theodor Wieland wurde am 26. Juni 1846 als Sohn des evangelischen Pfarrers Heinrich Wieland und dessen Frau Katharina geboren. Die Familie lebte in Schlat, einer kleinen Ortschaft nahe Göppingen am Rande der Schwäbischen Alb gelegen, deren rund 1.000 Einwohner überwiegend in der Landwirtschaft mit Schafzucht, Pferdezucht und Obstanbau beschäftigt waren. Theodor Wieland ergriff nicht, wie viele seiner Vorfahren, den Pfarrersberuf, sondern erlernte in einer Göppinger Apotheke den Beruf des Apothekergehilfen. An­schließend studierte er von 1866 bis 1869 in Tübingen Chemie und schloss das Studium mit der Promotion ab.

 Nach dem Studium siedelte er nach Pforzheim um. Im Sommer 1870 wurde er zum Militärdienst einberufen und nahm am deutsch-französischen Krieg 1870/71 teil. Nach Kriegsende trat Theodor Wieland in die Pforzheimer Probier- und Scheide­anstalt Artur Steinmann ein. Möglicherweise bestand dieses Arbeitsverhältnis bereits vor seiner Militärzeit. Die Firma mit Sitz in der Nähe des Pforzheimer Stadtbades analysierte die in der Schmuckbranche verwendeten Legierungen, die überwiegend aus Gold und Silber bestanden, und gewann daraus die einzelnen Edelmetalle zurück. In jener Zeit erlebte die Wirtschaft in Deutschland einen vorher nicht ge­kannten Aufschwung. Dieser so genannte „Gründerboom“ entwickelte sich durch die Euphorie der Reichsgründung und die damit wegfallenden Zollgrenzen innerhalb Deutsch­lands. Zusätzlich brachten die Milliarden Francs französischer Repara­tionszahlungen weitere Kaufkraft. Die Nachfrage nach Schmuck stieg gewaltig an und führte in Pforzheim allein im Jahr 1871 zu 250 Betriebsgründungen. Bei Theodor Wieland stellte sich auch privates Glück ein. An Weihnachten 1873 heiratete er die aus Herrenalb stammende Pfarrerstochter Elise Blum, mit der er seit Weihnachten 1871 verlobt war.

 Im Mai 1873 brachen die Finanzmärkte in Folge des Wiener Börsenkraches welt­weit ein. Es folgte eine rund 20 Jahre andauernde wirtschaftliche Rezession, die als „große Depression“ des 19. Jahrhunderts in die Wirtschaftsgeschichte einging. Diese Entwicklung traf auch die Schmuckbranche und führte in Pforzheim zu zahlreichen Betriebsschließungen. Gleichzeitig sank die Gesamtlohnsumme von 8,5 Millionen Mark im Jahr 1873 auf drei Millionen Mark im Jahr 1880, was einem heute unvor­stellbaren Rückgang auf 35 % entspricht. Angesichts dieser Entwicklung sahen viele Menschen für sich keine Zukunft mehr und wanderten aus. Die Zahl der Aus­wanderer mit dem Ziel Amerika erreichte nach dem Jahr 1880 wieder einen Höhe­punkt.

Theodor Wieland stieg in dieser wirtschaftlich extrem schwierigen Zeit im Jahr 1876 zum Prokuristen und einige Jahre später zum gleichberechtigten Gesellschafter in der Firma auf. Kurz danach übernahm er die Firma, die nun unter der Bezeichnung „Probier- und Scheidanstalt Dr. Theodor Wieland“ firmierte. Für die Geschäfts­übernahme waren mit dem Vorbesitzer Steinmann Ratenzahlungen über einen Zeitraum von 20 Jahren vereinbart. Offenbar konnte Theodor Wieland dieses Kapital nicht erwirtschaften und benötigte einen Kredit seines Bruders Heinrich, der eine vermögende Frau geheiratet hatte. In der Familie Wieland kursiert die Erzählung, dass Elise Wieland ihren Schwager in Stuttgart besuchte und diesen mit einem demütigenden Kniefall um 40.000 Mark Vorschuss bat. Trotz dieser Finanzhilfe entging die Firma Dr. Theodor Wieland nur knapp einem Konkurs und das Vermögen des Bruders wurde aufgebraucht. In jener Zeit änderten sich auch die Produktions­verfahren in der Schmuckbranche. Vor der Depression bestand der Schmuck in der Regel aus sehr goldhaltigen Legierungen. Danach wurde verstärkt so genannter Doublé-Schmuck hergestellt, beim dem nur noch eine dünne Goldschicht auf die Oberfläche eines billigen Grundmetalls, meist aus Kupferlegierungen, aufgewalzt wurde. Aus diesen Materialien war das Gold nicht mehr wie früher mit Säuren wirt­schaftlich sinnvoll herauszulösen, sondern die Materialien wurden in Schmelzöfen aufgearbeitet. Dazu verfrachtete die Firma Wieland ihre aufzuarbeitenden Abfälle jahrzehntelang zur Muldnerhütte nach Freiburg in Sachsen. Die Firma überstand auch diese technologische Umstrukturierung, blieb aber ein relativ kleines Unter­nehmen. Im Jahr 1902 waren neben dem Firmenbesitzer nur ein Prokurist, ein Buchhalter, eine Schreibkraft, ein Probierer, sieben Arbeiter und zwei Lehrlinge beschäftigt.                                       

Die Familie von Theodor und Elise Wieland vergrößerte sich im Verlauf der Jahre: Heinrich wurde am 4. Juni 1877 ge­bo­ren, Eber­hard am 19. Februar 1879, Marie, die später immer Mol­te genannt wur­de, am 8. Januar 1882, Hermannam 26. Feb­ru­ar 1885 und Eva am 19. April 1890. Da Wohnung und Scheideanstalt in einem Gebäude untergebracht waren, nutzten Heinrich und Hermann die Gelegenheit und führten bereits in jungen Jahren im Labor des Vaters chemische Experimente durch. Nach der Volksschule besuchte Heinrich das Großherzogliche Gymnasium Pforzheim und bestand am 11. Juli 1896 das Abitur als Zweitbester seines Jahrgangs. Im Anschluss daran studierte er Chemie in München, Berl­in und Stuttgart. Zu­­rück in München wurde er an der dortigen Universität im Juli 1901 pro­moviert, im De­zem­ber 1904 ha­bilitiert und 1909 zum Pro­fes­sor be­­­rufen. 1917 wechselte er auf eine Pro­­­­fessur an die TH Mün­chen. Aus einer im Jahr 1900 von ihm an Josephine Bartmann verschickten Postkarte ist zu entnehmen, dass er bereits zu dieser Zeit die vier Jahre jüngere Münchenerin kennen gelernt hatte. Offenbar standen seine Eltern dieser Beziehung anfänglich etwas skeptisch gegenüber und erachteten die zukünftige Schwiegertochter als nicht ganz standesgemäß. Die Heirat am 28. März 1908 in München fand daher im kleinsten Kreis, ohne Eltern und Schwiegereltern, statt. Aus dieser Ehe gingen vier Kinder hervor: Wolfgang, geboren am 25. März 1911, Theodor am 5. Juni 1913, Eva am 29. November 1915 und Otto Hein­rich am 21. Mai 1920. Die Ehe galt zeitlebens als ausgespro­chen glücklich.

 

Mit Beginn des ersten Weltkrieges, Anfang August 1914, änderten sich die Lebensumstände der ganzen Familie. Eberhard Wieland diente an der Westfront als Leutnant bei der Artillerie. Hermann meldete sich als Arzt freiwillig zum Kriegdienst, wurde mehrfach für seine Tapferkeit ausgezeichnet und nach einer Verwundung im Jahr 1917 an das Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin versetzt. Heinrich Wieland wurde zwar im März 1915 als Krankenpfleger ausgehoben, die bayrischen Behörden erwirkten jedoch für ihn eine Unabkömmlichkeitsbescheinigung, da bereits sämtliche Privatdozenten des Institutes einberufen waren und Wieland die Abteilung und das Labor leiten musste. Evas Mann Hermann Heß, der gleichzeitig Mitarbeiter in der väterlichen Scheideanstalt war, fiel am 21.12.1915 an der Westfront. Nachdem Eva die Nachricht vom Tod ihres Mannes erhalten hatte, nahm sich die zweifache Mutter aus Verzweiflung das Leben. Der erschütterte Heinrich eilte nach Pforzheim an das Todesbett seiner Schwester, die zusammen mit ihrem gefallenen Mann am zweiten Weihnachtsfeiertag 1915 beerdigt wurde. Ab März 1917 musste auch Heinrich seinen Kriegs­­dienst am Kaiser-Will­helm-In­sti­tut in Ber­lin-Dahlem ableisten. Dort arbeitete er als Abteilungsleiter an der Entwicklung neuer Kampfstoffe. Diese als Maskenbrecher bezeichneten Stoffe wurden von den Filtern der Gasmasken nicht zurückgehalten und führten beim Einatmen zu Atemwegsreizungen. Die so angegriffenen Soldaten rissen sich die Gasmasken vom Kopf und waren den beigemischten Giftgasen schutzlos ausgeliefert. Das Bayerische Kultusministerium legte jedoch Wert darauf, dass Wieland neben seiner Tätigkeit am KWI in Berlin-Dahlem auch seine Vorlesungen an der TH München halten sollte und daher wurde ihm für die Dauer des Krieges gestattet, 10 Tage im Monat in Berlin zu verbringen und in der restlichen Zeit musste er seinen Verpflichtungen in München nachkommen. Wieland fühlte sich in Berlin nicht wohl. Er litt unter der Trennung von seiner Frau und den damals drei Kindern. Zudem waren die Lebensumstände schwierig. Im sogenannten Steckrübenwinter 1916/17 mussten die als Futtermittel angebauten Steckrüben als Kartoffelersatz eingesetzt werden, da die Lebens­mittelversorgung im Reich auf 1.000 Kalorien pro Kopf, der Hälfte des Mindest­bedarfes, gesunken war. In seiner Berliner Freizeit traf sich Heinrich Wieland mit seinem Bruder Hermann und einigen ebenfalls abkommandierten Münchener Kollegen zum Kartenspiel. Insgeheim hoffte er auf einen Verständigungsfrieden, der sich allerdings nicht einstellte. Hermann arbeitete in Berlin im gleichen Institut an der toxikologischen Wirkung des Kampfstoffes Lost. Nach dem Krieg wurde Hermann Wieland Professor für Pharmakologie in Königsberg und später in Heidelberg. In dieser Zeit erkrankte er an Leukämie, vermutlich eine Spätfolge des Umgangs mit dem Kampfstoff Lost während seiner Tätigkeit in Berlin war. Hermann Wieland starb am 7. Mai 1929 im Alter von nur 44 Jahren.

 

Heinrich Wieland erhielt bereits während des ersten Weltkrieges mehrere Rufe an andere Universitäten, die er jedoch aus den verschiedensten Gründen ablehnte. 1921 folgte er einem Ruf auf den vergleichsweise kleinen Lehrstuhl für Chemie an der Universität Frei­­burg im Breisgau, der nach dem Tod von Ludwig Gattermann frei geworden war. Dort führte Wieland auch dessen Lehrbuch „Die Praxis des organischen Chemikers“ weiter, das unter seiner Leitung 17 Auflagen erfahren sollte und ab 1956 von seinem Sohn Theodor Wieland weitergeführt wurde. Außerdem übernahm er 1922 die Redaktion von „Justus Liebigs Annalen der Chemie“, die er bis 1956 fortführte. In Freiburg verbrachte Wieland nach eigener Aussage seine schönsten Arbeitsjahre.

 

Heinrichs Bruder Eberhard hatte zunächst ein Landwirtschaftstudium begonnen, war dann im Jahr 1902 zur Unterstützung des Vaters in die Firma eingetreten. Die Scheideanstalten hatten sich im Laufe der Zeit als Metalllieferanten neue Geschäfts­felder, beispielsweise für Zahngold, erschlossen. Wegen der steigenden Nachfrage nach Produkten der Firma wurde ein weiteres Gebäude in der Pforzheimer Museumstrasse bezogen und weiteres Personal eingestellt. Die Beschäftigtenzahl stieg im Laufe der Zeit auf rund 80 Mitarbeiter.

 

Die Inflation des Jahres 1923 brachte jedoch auch die Firma Wieland in immer größer werdende Schwierigkeiten. Theodor Wieland bezeichnete in jener Zeit die Situation der deutschen Wirtschaft als verzweifelt. Selbst seine feinsten Abnehmer würden ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen. Andere Kunden erklärten sich zahlungsunfähig, was die Außenstände der Firma in die Höhe steigen ließ. Trotz ausbleibender Aufträge wurde kein Mitarbeiter der Firma entlassen, sondern die Belegschaft an manchen Tagen bereits zur Mittagszeit nach Hause geschickt. Zum Jahresende 1925 schied Theodor Wieland im Alter von 79 Jahren aus der Firma aus und übergab die Leitung an seinen Sohn Eberhard. Theodor Wieland verstarb am 16.09.1928 im Alter von 82 Jahren.

 

Heinrich Wieland kehrte im Oktober des Jahres 1925 nach Mün­chen zurück und übernahm den be­rühmten Lehrstuhl für Chemie an der Uni­ver­sität, auf dem vor ihm der berühmte Justus von Liebig und die Nobel­preis­träger Adolph von Beyer und Richard Will­stätter gelehrt hat­ten. Am 10. Dezember 1928 erhielt auch Wieland den Chemie-No­bel­preis für das Jahr 1927. Mit der Preisverleihung wurde die gelungene Struk­turaufklärung der Gal­­len­säu­r­en gewürdigt, die damals als eine der schwierigsten Arbeiten in der organischen Chemie galt. Neben den Gallen­säuren forschte Wieland über orga­nische Radikale und viele Natur­stof­fe mit starker physio­logischer Wir­kung. Erwähnt sei das aus Pflanzen stammende und Muskel ­lähmende Curare, dessen Einsatz ab 1942 erstmals operative Ein­griffe im mensch­­­­lichen Brust­raum ermöglichte. Schon vor 1914 interessierten sich Heinrich Wieland, sein Bruder Herrmann und die Firma Boehringer für das in der Arzneipflanze Lobelia inflata enthaltene und atemanregende Alkaloid Lobelin. Beide Brüder hatten Beraterverträge mit der Firma. Die Pflanze wuchs in Nordostamerika und Deutschland war von Importen abhängig. 1916 begann Heinrich Wieland mit der Konstitutionsaufklärung des Lobelins, musste aber die Arbeit wegen ausbleibender Pflanzenlieferungen, bedingt durch durch die Seeblockade, einstellen. Nach Kriegsende konnte er seine Arbeit wieder aufnehmen. Wieland entwickelte ein Verfahren zur Isolierung des Lobelins aus der Pflanze, mit dem Boehringer 1921 ein Medikament auf den Markt bringen konnte. 1929 gelang Wieland die Konstitutionsaufklärung und die Totalsynthese des Lobelins. Nun konnten zwei ehemalige Wieland-Schüler bei Boehringer ein Produktionsverfahren im technischen Massstab entwickeln und ab 1937 war Deutschland von Missernten, schwankenden Alkaloidgehalten in den Pflanzen und amerikanischen Importen unabhängig.  Das Präparat kam unter der Bezeichnug "Lobeton" in den Handel und wurde als Wiederbelebungsmittel bei Atemlähmungen beispielsweise nach Unfällen eingesetzt. Lobeton war jahrelang das um­satz­stärkste Präparat der Firma wurde und hatte im zweiten Weltkrieg einen festen Platz in jeder Sanitätsausrüstung. Im Jahr 1931 war Heinrich Wieland in den Aufsichtsrat von Boehringer aufgestiegen.

 Die ab dem Jahr 1913 von Wieland entwickelte Dehy­drier­ungs­the­orie zählt zur Grundlagenforschung. Zu Beginn seiner Arbeiten galt allgemein die Ansicht, dass Oxidationsvorgänge in der Zelle durch den katalytisch aktivierten Sauerstoff ausgelöst werden. Aus seinen Experimenten schlussfolgerte Wieland, dass die Oxidation in der Zelle durch eine Anlagerung von Wasser und Abspaltung von Wasserstoff (Dehydrierung) erfolgt. Im Laufe der Jahre wurde Wielands Dehydrierungs­theorie in allen Stoff­wechsel­vor­gängen (Glykolyse, Citrat-Cyclus) be­­stä­tigt und brachte ihm den Ruf eines her­aus­­ra­genden Bio­chemikers ein­­.


Neben der Forschung war für Wieland auch die Wissensvermittlung von großer Bedeutung. Seine Vorlesungen waren oftmals überfüllt und in seinem Münchener Labor experimentierten über die Jahre hinweg rund 600 Studenten aus dem In- und Ausland. Mit diesen unternahm Wieland in der Freizeit Floßfahrten auf der Isar und Skiausflüge in die bayrischen Berge und zeigte sich dabei von seiner geselligen Seite.

 

Während des Drit­ten Reiches stand Wieland von Anfang an und für alle sichtbar dem NS-Regime ablehnend gegenüber. Er verweigerte konsequent den „deutschen Gruß“, der zu Beginn einer Vorlesung für den Vortragenden zwingend vorge­schrieben war. Ebenso ignorierte er einschlägige Verordnungen gegen rassisch folgte, gegen die ab dem Jahr 1941 ein Studienverbot erlassen wurde. Wie der Wissenschaftshistoriker Freddy Litten erst Ende der 1990er Jahre fand, beschäftige Wieland im Jahr 1943 etwa 25 soganannte „Halbjuden“ als Studenten, Doktoranden, technische Assistenten, Laboranten oder Gäste in seinem Labor. Teile seiner Forschung hatte er mit geschickter Argumentation als kriegswichtig einstufen lassen und damit deren Fortbestand gesichert. Trotz des erlassenen Studienverbotes ließ er betroffene Studenten weiter studieren und ihre Prüfungen ablegen. Die Situation am Chemischen Institut verschärfte sich, als im Jahr 1943 einer seiner Studenten, der das letzte Flugblatt der Widerstandgruppe „Weiße Rose“ vervielfältigt hatte, verhaftet und mit anderen des Hochverrats angeklagt wurde. Zum Prozess stellte sich Wieland als Entlastungszeuge zur Verfügung und spendete für die Inhaftierten Lebens­mittelmarken. Zum Tatbestand selbst konnte er allerdings nichts aussagen. Ob Wielands Auftreten vor Gericht die Urteile beeinflussen konnte, ist schwer zu sagen. Für die Angeklagten war sein Auftreten jedoch von hohem moralischem Wert. Wielands widerständiges Verhalten führte zu Denunziationen durch Studenten und zu häufigen Reibereien mit dem Rektor der Universität. Allerdings blieben sie erstaunlicherweise ohne ernsthaftere Konsequenzen. Vermutlich schützten ihn sein internationales Renommee und die guten Verbindungen zur Industrie.

 

Nach dem Krieg war die Situation in München ausgesprochen trostlos. Nach 73 Luftangriffen lag halb München in Trümmern, darunter Wielands Dienstwohnung und sein Chemisches Institut. Die amerikanische Besatzungsmacht entließ praktisch alle Mitarbeiter des Chemischen Instituts, verhängte über Wieland Hausarrest und verbot jegliche wissenschaftliche Arbeit. Wielands Starnberger Haus wurde von amerikanischen Truppen besetzt und er in ein kleines Nebenhaus umquartiert. Auch im persönlichen Umfeld musste er Schicksalsschläge hinnehmen: drei von Wielands engsten Freunden, der Nobelpreisträger Hans Fischer, der Chemieprofessor Otto Hönig­schmid und dessen Frau Lia nahmen sich im Verlauf des Jahres 1945 aus Verzweif­lung das Leben. Wieland war darüber zutiefst erschüttert.

 

Nachdem die Militärregierung neun Monate später Wieland als Professor wieder ein­gesetzt hatte, be­trieb der nunmehr 68-Jährige unter hohem persönlichem Einsatz den müh­­­seligen Wiederaufbau der zer­störten Institutsge­bäude. Zwar war man mit dem Chemischen Institut behelfsmäßig in einem Gebäude der Zoologie unter­gekommen, aber dessen Dach war durch die Bombenangriffe sehr in Mitleidenschaft gezogen. Es regnete oder schneite in die Räume hinein und Wieland sah sich zu der sarkastischen Überlegung veranlasst, dort im Winter eine Schlittschuhbahn einzu­richten. Auch für die Versuche in seinen Vorlesungen fehlte es am Allernötigsten. Dazu kam noch die Belastung der Verwaltungsarbeit als Institutsdirektor. Allein die Dienstzimmerkorrespondenz der Jahre 1945-1952 umfasst rund 2.700 Schreiben. Im Jahr 1947 war Wieland daher völlig erschöpft und hatte 25 kg Gewicht verloren. Sein Arzt verordnete ihm einen Erholungsurlaub, den er bei einem Freund in der Schweiz verbrachte. Jener musste vorher gegenüber der Kantonalen Fremdenpolizei in Basel versichern, dass er während der zwei Monate für „Unterhalt und Unterkunft“ seiner Gäste voll aufkommen werde und für die „einwandfreie politische Gesinnung“ des Ehepaares Wieland bürge.

Nach und nach kam der Institutsbetrieb wieder in Gang. Im Jahr 1950 wurde der immer stärker von Altersleiden geplagte Wieland zwar emeritiert, wegen der unge­klärten Nachfolgeregelung musste er jedoch die Institutsgeschäfte weiterführen. Erst am 1. Mai 1952 konnte der nunmehr 75-jähr­ige Wie­land die Institutsge­schäfte an sei­nen Nach­folger Rolf Huisgen übergeben.

 

Wielands Kinder waren zwischenzeitlich beruflich erfolgreich und für ihn Anlass zur Freude. Wolfgang arbeitete als Chemiker bei Boehringer, Theodor war Professor für Chemie, Otto Professor für Medizin und die Tochter Eva mit dem späteren Nobel­preisträger Feodor Lynen verheiratet. Heinrich Wielands Enkelschar war auf 14 angewachsen.

 

Zum Ende seines Lebens wurde es still um Heinrich Wieland. Er verstarb fast völlig erblindet am 5. Au­gust 1957 in Starnberg bei Mün­chen.

 

Tabellarischer Lebenslauf von Heinrich Otto Wieland

 

4. 6. 1877 In Pforzheim geboren

Eltern: Dr. Theodor Wieland (26.06.1846 – 16.09.1928) und Elise Wilhelmine geb. Blum (1849 – 1936).

Geschwister: Eberhard (19.02.1879 – 02.04.1974); Marie (08.01.1882 – 1963); Hermann (26. 2. 1885 – 9.6.1929); Eva (19. 4. 1890 – 22.12.1915)

1883-1887 Besuch der Volksschule

1887-1896  Besuch des Großherzoglichen Gymnasiums in Pforzheim

11. 7. 1896  Abiturprüfung, Zweitbester seines Jahrgangs

WS 1896/7 – SS 1897  Studium im Fach Chemie an der Universität München 

WS 1897/8  Studium an der Universität Berlin

SS 1898 – WS 1898/9  Studium an der Technische Hochschule Stuttgart, Verbandsexamen Juli 1898

SS 1899 – SS 1901 Studium an der Universität München   

8. 7. 1901 Promotion zum Dr. phil. mit »magna cum laude« bei Adolf von Baeyer (31.10.1835 – 20.08.1917), Ludwig-Maximilians-Universität München. Doctorexamen bei Prof. Thiele (1865 – 1918)

1901-1902  Privatassistent, I. Berliner Institut bei Prof. Harris (1866-1923)

13. 12. 1904 Habilitation (venia legendi),

25. 1. 1905  Privatdozent für Chemie bei Adolf von Baeyer, Universität München, Beratervertrag mit der chemisch-pharmazeutischen Fabrik J.D. Riedel in Berlin. Ab 1907 und lebenslang mit der Fa. C.H.Boehringer in Nieder-Ingelheim am Rhein

28. 3. 1908  Heirat mit Josephine Bartmann (4.3.1881 – 9.6.1966)

Kinder: Wolfgang (25.03.1911 -13.01.1973); Theodor (05.06.1913 - 24.11.1995) ; Eva (29.11.1915 – 2002) ; Otto (21.03.1920 – 21.04.1998)

1909 Außerordentlicher Professor an der Universität München.

1913  Etatmäßiger Extraordinarius und Abteilungsvorstand am che­mischen Staatslaboratorium München.

1914 - 1917 Außerordentlicher Professor für spezielle organische Che­mie im Staatslaboratorium München.

Ab 1917 Ordentlicher Professor für organische Chemie an der TH München. 15. 3. 1917 - 8.11..1918 zusätzliche Tätigkeit als Kriegsdienst (10 Tage im Monat) am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin-Dahlem, Leiter der Forschungsabteilung D.

Ab SS 1921 Ordinarius für Chemie Universität Freiburg im Breisgau.

Ab 1. 10. 1925 Direktor des Chemischen Staatslabors, das 1938 in Che­mi­sches Institut der Ludwig-Maximilians-Universität um­be­nannt wurde.

1927  Nobelpreis für Chemie (verliehen am10.12.1928)

1. 8. 1950  Emeritierung, Weiterführung der Institutsleitung.

1. 5. 1952  Übergabe der Institutsleitung an Rolf Huisgen (13.06.1920 - 26.03.2020)

5. 8. 1957 in Starnberg bei München verstorben

 
Lit.: Vollmer, A., Der Chemie in München ist der Garaus gemacht. Erwin Rauner Verlag: Augsburg (2008)

Vaupel, E., Vernetzungen und Freiräume: Heinrich Wieland (1877-1957) und seine Zeit. Angewandte Chemie Wiley-Verlag GmbH & Co. KGaA: Weinheim, 119 (2007) 9314-9338. DOI:10.1002/ange.200702255

Vaupel, E., Heinrich Wieland (1877-1957) Chemiker mit Zivilcourage Giftgasforscher - Chemie-Nobelpreisträger - Gegner der Nationalsozialisten. Kultur und Technik 04/2006 S. 51 ff.

Wieland, Th., Sucrow, W., Gattermann.Wieland, Die Praxis des organischen Chemikers. Walter de Gruyter: Berlin (1982)

Witkop, B., Erinnerungen an Heinrich Wieland. Liebigs Annalen der Chemie. VCH Verlagsgemeinschaft: Weinheim (1992) I-XXXII

Prandtl, W., Die Geschichte des Chemischen Laboratoriums der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München. Verlag Chemie: Weinheim/Bergstr. (1952)

„Betriebsausflug“ genannter Ski-Ausflug aufs „Hörnle“ bei Murna in den Ammergauer Alpen. Von Links: Heinrich Wielands Neffe und Doktorand Ulrich Wieland. Er wurde 1950 Nachfolger seines Vaters Eberhard geschäftsführender Gesellschafter Firma Dr. Theodor Wieland & Co. (1). Ulrich Wieland starb am 26.12.2003 im Alter von 92 Jahren. Dann Heinrich Wieland und rechts zwei Saalassistenten (Quelle: Ulrich Wieland). Bild gegen Ende der 30er Jahre. Foto: Mit freundlicher Genehmigung von Maria Wieland Pforzheim

(1): Lit.: Harmsen-Spellerberg, S., Chronik der Firma Dr. Th. Wieland Scheideanstalt. Autoorisiert und herausgegeben von Maria Wieland. Privatdruck: Baden-Baden (2011)

Ergänzungen, Korrekturen Presse

Die Gallensäuren


Heinrich Wieland erhielt am 10.12.1928 der Nobelpreis für Chemie für das Jahr 1927. Damit würdigte das Nobelkommittee die Strukturaufklärung der Gallensäuren, die zu den schwierigsten Aufgaben gehörte, die "die organische Chemie jemals zu bewältigen gehabt hat" (Prof. Söderbaum bei der Verleihung).
Die Gallensäuren weckten das Interesse von Heinrich Wieland, da man zu Beginn dieser Arbeiten bereits wusste, dass diese Substanzen mit einer Reihe von biologisch wichtigen Stoffen (Sterine, Saponine) chemisch verwandt sind. Außerdem hatte Wieland für die Fa. Boehringer ein Herz-Kreislauf-Mittel aus Campher und der Desoxycholsäure entwickelt, das 1920 auf dem Markt kam. Bei dieser Einschlussverbindung erhöht diese Gallensäure die Löslichkeit des eigentlichen Wirkstoffes Campher in Wasser. In seinem Nobelvortrag erwähnte Wieland, dass ohne diesen "praktischen Wert...die Versuche zur Konstitutionsermittlung der Gallensäuren in den ersten Anfängen stecken geblieben wären".

Seit 1919 war zudem bekannt, dass das Cholesterin und die Gallensäuren das gleiche Ringsystem besitzen. Die Arbeiten des mit Wieland befreundeten Adolf Windaus in Göttingen über die Struktur des Cholesterins lieferten zusätzliche Informationen für die Strukturermittlung. Für seine Arbeiten über das Cholesterin erhielt Windaus den Nobelpreis für Chemie für das Jahr 1928 am gleichen Tag wie Wieland.

Bei den Arbeiten mit den Gallensäuren erkannte Wieland auch, dass deren Salze wasserlöslich sind und bei der Verdauung die Fette (Triglyceride) emulgieren.

Zur Strukturaufklärung der Gallensäuren benutzte er die in der Rindergalle am häufigsten vorkommende Cholsäure. Dabei wurden zuerst die drei OH-Gruppen schrittweise in Carboxylgruppen oxidiert und dabei die Sechsringe geöffnet. Die entstanden Di- und Polycarbonsäuren wurden anschließend vielen weiteren Untersuchungen (Hydrolysen, Pyrolysen, Oxidationen, Hydrierungen) unterworfen. Für den Fünfring musste ein eigener Abbauweg gefunden werden (die heute gängigen spektroskopischen Methoden zur Strukturaufklärung standen damals nicht zur Verfügung). Von der ersten Veröffentlichung im Jahr 1912 bis zur preisgekrönten Strukturformel benötigte Wieland 16 Jahre. Diese Formel wurde 1932 von Wieland und seiner Schülerin E. Dane nochmals korrigiert. Kurze Zeit später entdeckte man, dass die von Wieland ermittelte Struktur in sehr vielen biologisch wichtigen Substanzen (Sexual- und Nebennierenhormonen, Gifte des roten Fingerhutes, Vitamin-D-Komplex) vorhanden ist. Stoffe mit dieser Anordnung von drei Sechsringen mit dem Fünfring nennt man "Steroide". Zu den synthetischen Steroiden gehören die kontrazeptiven Steroide ("Antibabypille"), die die Bevölkerungsentwicklung in den Industrieländern stark beeinflusst haben.

Lit.:

Wieland, H.: Chemie der Gallensäuren. Angew. Chemie 1929. Nr. 17. S. 421 - 436

Vaupel, E.: Vernetzung und Freiräume: Heinrich Wieland (1877-1957) und seine Zeit. Angew. Chem. 2007. 119. S. 9314-9338

Schöpf, C.: Heinrich Wieland zum Gedächtnis. Angew. Chem. 1959 71. Jahrgang. Nr. 1. S. 1-5

Abb.: Die Cholsäure C24H40O5 in verschiedenen Darstellungsformen.

Abb.: Die Cholsäure gehört zu den Gallensäuren, die sich durch die Zahl und Positionen der OH-Gruppen unterscheiden. Die Hauptgallensäuren in der menschlichen Galle sind die Cholsäure, Desoxycholsäure und die Chenodesoxycholsäure. In geringen Mengen findet man noch die Lithocholsäure und die hier nicht aufgeführte Ursodesoxycholsäure.

https://roempp.thieme.de/lexicon/RD-07-00094?searchterm=gallens%C3%A4uren&context=search

Die Cholansäure ist die Stammverbindung der Gallensäuren, sie kommt jedoch in in der Natur nicht vor. (siehe Dienstzimmer- Korrespondenz). Die Gallensäuren gehören zu den Steroiden.

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